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Rundbrief Januar 2023

Die Demut des Nichtwissens

Margarethe Randow-Tesch

Im Hinblick auf die Welt und das in ihr existierende Selbst, mit denen wir so identifiziert sind und die wir der Entwicklung und Erkenntnis für fähig halten, notierte der in den 1930er Jahren verstorbene portugiesische Schriftsteller und große Skeptiker Fernando Pessoa in seinem Buch der Unruhe nüchtern: »Auf dem Maskenball, der unser Leben ist, genügt uns die gefällige Maskerade … Alles, was wir tun oder sagen, alles, was wir denken oder fühlen, trägt ein und dieselbe Maske und ein und dasselbe Kostüm. Sosehr wir auch ablegen, was wir tragen, wir gelangen nie zur Nacktheit, denn die Nacktheit ist ein Phänomen der Seele … Und so, an Körper und Seele bekleidet, in unseren vielfältigen Kostümen, mit uns verwachsen wie Federn mit einem Vogel, leben wir glücklich oder unglücklich oder auch nicht einmal wissend, was wir sind, den kurzen Zeitraum, der uns von den Göttern gegeben … Der eine oder andere von uns sieht plötzlich…, dass alles, was wir sind, wir nicht sind, dass wir uns in dem täuschen, dessen wir uns sicher sind, und in dem irren, was wir für richtig halten« (Fischer Taschenbuch, S. 256 f.).

Sich dem Unbehagen der Fragwürdigkeit und Unwissenheit unserer Existenz auszusetzen ist vielleicht der schwierigste Prozess, den Menschen überhaupt durchlaufen. Zugleich ist es, wenn sie dort nicht stehen bleiben, eine der grundlegenden Voraussetzungen, um das System der festgefügten Ego-Überzeugungen, das der Welt wie ein Spinnennetz zugrunde liegt, verlassen zu können.

Es ist auch die Voraussetzung, um den Kurs wirklich zu lernen, denn er zielt auf das ehrliche Anschauen und Verlernen des Fundaments der Welt ab, nicht auf Verdrängen und Schönfärben. Nicht ohne Grund heißt es an einer Stelle: »Diesen Kurs zu lernen erfordert die Bereitwilligkeit, jeden Wert infrage zu stellen, den du hast« (T-24.Einl.3:1). Und an einer anderen Stelle im Textbuch: »Indessen ist der wesentliche Punkt, den du zu lernen hast, dass du nicht weißt« (T-14.XI.1:1).

Angesichts dieser Aussagen gibt es die unbewusste Versuchung, eine Abkürzung zu nehmen und sich damit zu begnügen, die Aussagen des Kurses auf die Welt und das uns vertraute besondere Selbst zu beziehen. Wir wollen es vom Leid befreien, zukünftiges Leid abwenden und Techniken der Vergebung in unseren Beziehungen hier lernen. Wir wollen, anders ausgedrückt, die Wahrheit in die Illusion ziehen und nicht weitergehen.

In der Schrift über Psychotherapie steht (und dasselbe gilt für die Arbeit mit dem Kurs): »Der Patient hofft zu lernen, wie er die Veränderungen, die er will, bekommen kann, ohne sein Selbstkonzept nennenswert zu ändern. In der Tat hofft er, es ausreichend zu stabilisieren, um die magischen Kräfte darin einzuschließen, die er in der Psychotherapie [bzw. im Kurs] sucht. Er will das Verletzliche unverletzlich machen und das Begrenzte grenzenlos. Das Selbst, das er sieht, ist sein Gott, und er trachtet nur danach, diesem besser zu dienen« (P-2.Einl.3:3-6).

Über all diesem Bemühen vergessen wir geflissentlich die erste Lektion des Kurses: »Nichts, was ich sehe, bedeutet etwas« (Ü-I.1). Dies aber ist aus der Sicht des Kurses unser einziges Elend: Wir haben uns von der Bedeutung der Liebe abgeschnitten, eine Mauer zwischen uns und ihr errichtet und beten stattdessen das Bedeutungslose an: ein geschlossenes System der Angst und Getrenntheit, für das unser psychophysisches Selbst ein mächtiger Zeuge ist.

Vorsichtig in diese Richtung zu schauen ist der Anfang des Weges aus dem Elend: Wenn das psychophysische Ich eine Maskerade und seine Welt ein großer Maskenball sind, müssen sie nicht verändert und nicht geheilt, sondern schlicht als große Inszenierung betrachtet werden, während wir die uns zugefallene Maske leichteren Herzens tragen. Wir können aufatmen und müssen keinem wie auch immer gearteten Glücksideal nachjagen, das sich nicht erreichen lässt, so wie der bedauernswerte Hase im Märchen vom Hasen und vom Igel: »Die Zahl der Wege, die die Welt anbieten kann, scheint ziemlich groß zu sein; die Zeit muss aber kommen, wo jeder zu sehen beginnt, wie ähnlich sie einander sind. Manche Menschen sind gestorben, als sie dieses sahen… als sie lernten, dass sie nirgendwohin führen, verloren sie die Hoffnung. Und dennoch war dies ebenjene Zeit, in der sie ihre größte Lehre hätten lernen können« (T-31.IV.3:3-6).

Wahrheit, Gott , Liebe, Unschuld, Gerechtigkeit, Frieden – wie könnten wir sie auf dem Maskenball des Ego finden? In einem aus Trennungsdenken und Täuschung gemachten System und mit den Mitteln dieses Systems? Der Hase im Märchen verliert das Rennen gegen den raffinierten Igel am Ende, denn es war vornherein kein fairer Wettlauf, sondern eine geschickte Täuschung.

Die Täuschung und Verkleidung zu durchschauen, statt ihr in die Falle zu gehen, während wir unsere Rolle spielen, wird also zu unserer Lektion. Unsere Bedeutung – das Ende des Leidens – ruht außerhalb des Egosystems, außerhalb des besonderen Selbst, außerhalb von Konzepten und in der Loslösung von sämtlichen Konzepten. Sie wartet auf unsere Rückkehr durch eine kleine Bereitwilligkeit, nicht aus der Begrenztheit unserer Sinne zu urteilen. Nun kann der Blick sanft werden: Statt die Unterschiede der Masken zu beurteilen, entwickelt sich ein Verständnis für die existenzielle Angst derjenigen, die in ihren Masken gefangen sind: wir alle. Wie wichtig ist es daher, uns einzugestehen, wie wenig wir im Grunde wissen.

Angesichts der massiven Identifikation damit, dass wir zu wissen meinen, ist das Loslassen des Urteilens, das mit dem Infragestellen unseres Selbstkonzepts einhergeht, allerdings ein Prozess, dem wir mit Respekt und Geduld begegnen sollten: »Es gibt keine Aussage, die die Welt mehr zu hören fürchtet, als diese: Ich weiß nicht, welch ein Ding ich bin, und deshalb erkenne ich nicht, was ich tue, wo ich bin oder wie ich auf die Welt oder auf mich schauen soll. Doch in diesem Lernen wird die Erlösung geboren. Und was du bist, wird dir von sich berichten« (T-31.V.17:6-8).

Bis dahin üben wir in unseren Alltagsrollen behutsam und ohne Eile, das besondere Selbstkonzept, das sich anhand unserer Reaktionen zeigt, als Bild zu sehen statt es zu schützen. Wir müssen das verletzte Selbst, das wir zu sein glauben, weder verleugnen, spirituell schönfärben noch bekämpfen, sondern einfach mit dem vorsichtigen Fragezeichen der Bedeutungslosigkeit versehen. Bis wir es eines Tages nicht mehr brauchen! In dieses ledige Gemüt, um mit Meister Eckhart zu sprechen, oder, wie es im Kurs heißt, in diesen offenen Geist kehrt die Wahrheit zurück.

Das ist der Prozess des Verlernens dessen, was sich zwischen uns und den Frieden stellt. Man könnte meinen, das würde zu Weltentwertung oder Weltflucht führen. Es hat aber gar nichts mit dem Äußeren zu tun. Wo das Kreisen um die Maske des besonderen Selbst abnimmt, sind Sicherheit, Sanftmut und Großmut im Denken die Folge. Was wir denken, färbt automatisch unsere Wahrnehmungen und unser Verhalten, egal in welcher Maske, in welcher Rolle. Im Kurs werden wir daher erinnert: »Denke nicht, dass du irgendetwas verstehst, solange du nicht die Prüfung des vollkommenen Friedens bestehst … Jedesmal, wenn du zu wissen glaubst, scheidet der Frieden von dir, weil du den Lehrer des Friedens verlassen hast. Jedesmal, wenn dir vollauf klar wird, dass du nicht weißt, kehrt der Frieden wieder, denn du hast ihn dazu eingeladen, indem du das Ego zu seinen Gunsten aufgegeben hast … Der Heilige Geist wird von sich aus jeden Geist erfüllen, der auf diese Weise für ihn Raum schafft« (T-14.XI.12:4,13:3-4,6).

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